Tausende Ratsuchende kommen jährlich zu uns in die Beratung. Wir stellen Ihnen nachfolgend typische Beratungsfälle aus der Praxis vor. Die Fälle wurden mit dem Einverständnis der Betroffenen anonymisiert.
Herr M., 47 Jahre alt, ist in einer führenden Position tätig. Er ist verheiratet und hat zwei jugendliche Kinder. Er kommt mit seiner Frau in die Beratung und schildert folgendes Problem: Er sei beruflich stark eingebunden und deshalb abends immer erst sehr spät zuhause. Manchmal müsse er auch am Wochenende arbeiten. Seine Frau mache ihm starke Vorwürfe, weil sie sich mit allem, so auch mit den Problemen der jugendlichen Kinder, von ihm allein gelassen fühle. Sie habe schon von einer Trennung gesprochen, wenn sich der Zustand nicht ändere. Durch die daraus resultierenden Streitereien habe er manchmal schon gar keine Lust mehr, nach Hause zu kommen und bleibe dann lieber extra länger im Büro.
In der Beratung machen sich die Ehepartner zunächst gegenseitig für die Probleme verantwortlich: „Wenn du nicht so viel arbeiten würdest“, „Wenn Du mir nicht immer Vorwürfe machen würdest“. Nach dem ersten Gespräch machen sich sowohl Herr M. als auch seine Frau Gedanken darüber, was sie jeweils selbst bereit sind, zu verändern. Dies setzen sie im weiteren Verlauf der Beratung recht konsequent um:
Das wichtigste Ergebnis der Beratung ist, dass die beiden Ehepartner durch diese zunächst kleinen Veränderungen nicht mehr so häufig Spannungen haben, sondern sich gegenseitig wieder besser zu schätzen wissen. Das beeinflusst die Beziehung und die Atmosphäre zuhause insgesamt positiv.
Dieser Eindruck entsteht immer wieder in der Beratung. Unabhängig davon, worum es inhaltlich eigentlich geht: Ein Konflikt scheint ein Zustand zu sein, den man schnellstmöglich beenden sollte oder – noch besser – er tritt gar nicht erst ein. Um Letzteres zu erreichen, zahlen viele Menschen mitunter einen hohen Preis. Doch ein Konflikt birgt immer auch eine Entwicklungsmöglichkeit. Wer die Auseinandersetzung meidet, verschenkt diese wichtige Chance.
Ein Beispiel: Sandra S. teilt sich mit einer älteren Kollegin das Büro. Die Kollegin hat die Angewohnheit, den ganzen Tag bei offenem Fenster zu arbeiten – Sommer wie Winter. Auf den höflichen Vorschlag, gerne zwischendurch zu lüften, aber ansonsten das Fenster geschlossen zu halten, geht sie nicht ein. Daraufhin bricht ein Streit zwischen den beiden aus, die ältere Kollegin verlässt wütend und türenschlagend das Büro. Sandra S. ist geknickt und beschließt, sich am nächsten Tag zu entschuldigen und das offene Fenster wortlos zu akzeptieren. Hauptsache, es herrscht wieder Frieden. Hätte sie ihren Plan umgesetzt, hätte sie nie die wahren Gründe für den Wunsch nach dem offenen Fenster erfahren. Die ältere Kollegin leidet in geschlossenen Räumen unter einem massiven Gefühl der Enge, was ihr zudem sehr peinlich ist.
Einen Konflikt nicht zu umgehen, sondern auszuhalten und auszusprechen, kann zu einem Zugewinn an Information führen. Und schließlich ist es ja ein Trugschluss zu glauben, Dinge seien nicht da, nur weil man sie nicht ausspricht. Dann können sie ungeklärt vor sich hin schwelen. Bleibt die Frage, was besser ist: Drückende Schwüle oder ein reinigendes Gewitter. Konflikt und Streit gehören zum Leben dazu. Vielleicht ist das manchmal unangenehm. Aber für unsere Entwicklung wichtig.